Als sich die Punkbewegung Ende der 70er Jahre zur ewigen Ruhe bettete, errichteten einige junge Bands wie Bauhaus, Joy Division oder Siouxsie & The Banshees auf den Ruinen der Sex Pistols eine neues, efeu-umranktes Gebäude. Dessen gotische Architektur sollte schon bald ihre Schatten auf die Musikwelt legen und Nick Cave genauso wie The Sisters Of Mercy in ein finsteres Schwarz tauchen. Der amerikanische Musikjournalist Dave Thompson, in der Vergangenheit mit zahlreichen Büchern über The Cure, Depeche Mode oder Red Hot Chili Peppers in Erscheinung getreten, liefert mit „Schattenwelt – Helden und Legenden des Gothic Rock“ den bislang umfangreichsten Einblick in die Geschichte des Gothic Rock. Rund 400 Seiten stark ist das jetzt in deutscher Übersetzung im Hannibal Verlag erschienene Buch, das den zeitlichen Bogen von The Velvet Underground und Iggy Pop in den späten 60er Jahren bis in die aktuelle Gegenwart zu Marilyn Manson und Trent Reznor spannt. Von einer losen Definition des Düster Rock beziehungsweise Gothic Rock ausgehend, setzt Thompson den Beginn des Phänomens ins Jahr 1977, als sich Iggy Pop mit dem Album „The Idiot“ eine unerwartete Frischzellenkur verpasste und damit das Gothic-Triumvirat Bauhaus, Siouxsie & The Banshees und natürlich Joy Division maßgeblich in ihren frühen Songs beeinflusste. Vor allem die ersten beiden Kapitel, in denen Thompson anhand vieler O-Töne herausarbeitet, wie der düstere Sound gerade genannter Bands eine ganze Bewegung ins Rollen brachte, vermittelt ein lebendiges Bild der britischen Szene Ende der 70er Jahre, als sich Gothic Rock noch undeutlich am Horizont abzeichnete. Bildlich bekommt man das mächtige Rumoren im Untergrund nach dem Abgesang auf Punkrock vor Augen geführt; kann die Suche nach etwas Neuem mit Händen greifen. Das nimmt ab 1980 in Form von Gothic Rock Gestalt an. Während dem Triumvirat das Label Gothic Rock wider Willen angehaftet wurde, treten mit The Sisters Of Mercy und der Batcave-Szene um Bands wie Alien Sex Fiend, Specimen, Marc Almond und Sex Gang Children nun die Erben auf den Plan. Sie spielen mit den inzwischen etablierten Klischeebildern und prägen das bis heutige gängige Image des Gothic Rock. Im letzten Teil wandelt Thompson auf den Spuren der „Helden des Gothic Rock“. Er lässt die The Sisters Of Mercy/Sisterhood/The Mission-Streitereien noch einmal aufleben, folgt The Cult, The Cure und Love & Rockets auf deren Siegeszug in den Mainstream. Leider verfolgt der Autor hier keinen roten Faden mehr, sondern reiht lieblos ohne jede analytische Schärfe ein Release an das nächste, um schließlich beim Columbine Schulmassaker, Trent Reznor und Marilyn Manson zu landen. Eine praktische, rund 40 Seiten umfassende Zeittafel beschließt „Schattenwelt“. Am Ende bleibt ein durchwachsener Eindruck. Die erste Hälfte des Buches besticht durch eine lebendige und äußerst detailreiche Erzählweise und macht „Schattenwelt“ zu einer leichten und informativen Lektüre. Leider scheitert Thompson im zweiten Teil des Buches an seiner eigenen Inkonsistenz. Es gelingt ihm nicht, eine schlüssige Argumentation aufzubauen. Anfangs noch einer offenen Definition von Gothic Rock verpflichtet, engt sich seine Sichtweise immer mehr ein. Wo zu Beginn interessante Vielfalt steht, findet sich gegen Ende lediglich die Fokussierung auf einige namhafte Acts. Aktuelle Weiterentwicklungen der Szene werden komplett ausgeklammert, genauso wie die amerikanischen Vertreter des Gothic Rock. Christian Death, auf dem Cover zwar extra erwähnt, verkommen in „Schattenwelt“ zu einer unwichtigen Band, die in einem kurzen Absatz abgehandelt wird. Das macht keinen Sinn, wenn man, wie Thompson zu Beginn, Gothic Rock als etwas lebendiges und damit wandelbares definiert. Wenn er ganz am Ende von Gothic Rock als „Lehre“ spricht, macht dies deutlich, wie wenig er seinen eigenen Standards treu geblieben ist, wie wenig es ihm gelungen ist, die aktuellen Entwicklungen mit vorsichtiger Distanz zu reflektieren und diese mit der Geschichte des Gothic Rock in Einklang zu bringen. Warum die alten Helden des Gothic Rock auch die neuen Helden sein sollen, diese zentrale These bleibt selbst am Ende des Buches mit einem dicken Fragezeichen versehen im Raum stehen. Dave Thompson hat mit „Schattenwelt“ einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan. Weitere werden aufgrund der Mängel seines Buches hoffentlich nicht ausbleiben.
Mar
26
2004