Jun
20
2005

Presse-Boykott gegen Köln-Auftritt

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Die Hauptfigur in George Orwells Roman „1984“ hat einen wichtigen Beruf. Winston Smith redigiert im Auftrag des Überwachungsstaates Zeitungsberichte und Fotos, damit Unerwünschtes nicht an die Augen der Öffentlichkeit gelangt. Manch ein Tourmanager befindet sich momentan in einem ähnlichen Kontrollwahn wie der Staat bei Orwell. Wer auf Konzerten bestimmter Künstler Fotos schießen will, sieht sich immer rigideren Restriktionen gegenüber. Neuestes Beispiel ist die Welttournee von Coldplay. Die Kölner Tageszeitungen Kölner Stadt-Anzeiger, Express und Kölnische Rundschau verzichteten aus Protest gegen Knebelverträge auf Berichte vom Coldplay-Konzert. Die Band war nach ihrer Deutschland-Premiere am Mittwoch in Hamburg, wo es ähnliche Aktionen gegeben hatte, am Freitagabend in Köln am Fühlinger See aufgetreten. Auch vor dem Gig in Hamburg hatte das Coldplay-management den anwesenden Journalisten eine Fotovereinbarung zur Unterzeichnung vorgelegt. Darin sollten sie sich verpflichten, gemachte Fotos weder zu archivieren noch zu einem späteren Zeitpunkt erneut abzudrucken. Die unerwartete Konsequenz des Knebelvertrags: Die Presse verzichtete komplett auf die Berichterstattung, weil keiner bereit war, das Papier zu unterschreiben. Kölner Blätter reagierten ähnlich. Tourmanager Andy Franks versteht den Wirbel nicht: „An unserer Fotovereinbarung ist nichts Unübliches.“ Ähnlich Vorfälle ereigneten sich in der jüngsten Vergangenheit auch bei Destiny’s Child in der Kölnarena, Black Sabbath in Dortmund und dem Comeback-Auftritt der Backstreet Boys im Kölner E-Werk. Um gegen die strengen Auflagen zu protestieren hatte der Kölner Stadtanzeiger bereits Anfang Juni weiße Flächen gelassen, wo ursprünglich Fotos von Destiny’s Child zu sehen sein sollten. Der Auftritt von Black Sabbath wurde von der deutschen Presse weitgehend ignoriert, im Fall der Boygroup gewannen allerdings die Journalisten den Machtkampf mit dem Management, das angesichts des drohenden Presse-Boykotts die Forderung, die Fotos nach 90 Tagen zu vernichten, schnell zurückzog. „Wir lassen uns nicht vorschreiben, welche Bilder wir veröffentlichen und wie lange wir sie nutzen“, mahnt dpa-Fotochef Bernd von Jutrczenka. Es gelte, Angriffe auf den seriösen Journalismus abzuwehren. Außerdem sei möglichem Missbrauch des Materials schon durch die Gesetzgebung ein Riegel vorgeschoben. Für Plattenfirmen und Bands hat der Boykott unangenehme Konsequenzen. Schließlich leben Musiker und Labels zum Großteil von der Plattform, die ihnen die Medien bieten. Der Presse-Promoter der Coldplay-Plattenfirma EMI zeigt Verständnis für die Verweigerung. „Wir müssen den Fall jetzt aufrollen und sagen: Liebes Management, so geht es nicht.“