Jul
11
2005

Vom Anschlag überschattet

readmore_rock_RN219832_v1

Ein alter, fast greiser Mann stahl den Stars die Show gestern Abend beim Live 8-Abschlusskonzert in Edinburgh. Als Bono von U2 Nelson Mandelas Videoansprache ankündigte, war es plötzlich mucksmäuschenstill im mit 60.000 Menschen vollgestopften Murrayfield Rugby Stadion zu Edinburgh. „Hin und wieder bekommt eine Generation die Chance, Größe zu zeigen“, sagte Nelson Mandela. „Ihr könnt diese Generation sein. Ihr habt die Möglichkeit. Lasst uns arbeiten und Armut noch in diesem Jahr zur Geschichte machen!“ In diesem vom britischen Guardian sehr schön geschilderten Augenblick gegen Ende des Konzertmarathons mit Musikern wie Grönemeyer, Annie Lennox, Travis und James Brown hat wohl ein großer Teil der Anwesenden an die eigene Kraft geglaubt. An die Möglichkeit zur Veränderung. Wenn auch vielleicht mit leiser Verwunderung über den Alten: „Noch in diesem Jahr? Hey ho, jetzt soll’s aber hopplahopp gehen …“ Immerhin erklärte gestern ja selbst der eher abgebrühte Hosenhäuptling Campino, dass die von Live 8 entfachte Aufmerksamkeit die politischen Führer der großen Industriestaaten unter Druck gesetzt habe. Bob Geldof erntete den rauschenden Beifall des Publikums, als er erklärte, dass weltweit 38 Millionen Menschen der ‚Make Poverty History‘-Kampagne online beigetreten wären. Auch sonst erhielt der ehemalige Popstar gestern und heute Anerkennung von allen Seiten, die in einer Nominierung zum Friedensnobelpreis gipfelte. Bereits vor dem Abschlusskonzert des Live 8-Spektakels hatten sich Geldof und Bono mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem 30-minütigen Gespräch getroffen. Hinterher lobten die beiden höflich Schröders Anstrengungen, die Entwicklungshilfe anzuheben, und auch das Engagement Deutschlands bei der Ausrichtung des Live 8-Konzertes in Berlin (was man nicht unbedingt als Seitenhieb auf einen wichtigtuerischen deutschen Konzertveranstalter verstehen muss). Wer jedenfalls gestern oder schon in den letzten Tagen von einer neuen Welt geträumt hatte, wurde heute morgen roh geweckt. Als es nach dem blutigen Terroranschlag in London kurzzeitig hieß, der G8-Gipfel werde abgebrochen, mussten Geldof und seine Mitstreiter befürchten, dass all ihre Mühen völlig vergeblich waren – von einem derartigen Scheitern hätte sich die ‚Make Poverty History‘-Kampagne vielleicht nie wieder erholt. Ob die Armut Afrikas auch nach den Anschlägen noch ein Gipfelthema ist, lässt sich am Donnerstag Nachmittag noch nicht absehen. Eine bittere Lehre müssen die Live 8-Organisatoren heute trotzdem lernen: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist ein scheues Reh. Das auch andere zu scheuchen wissen.