Oct
30
2008

Sven Regener liest „Der kleine Bruder“

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Dieser Frank Lehmann hats aber auch nicht leicht. Erst muss er beim Bund einen Selbstmordversuch vortäuschen, um dem kasernierten Wahnsinn zu entkommen („Neue Vahr Süd“), dann rafft sich der Bremer Jüngling zu einer Reise zum großen Bruder in die Mauerstadt Berlin auf („Der kleine Bruder“), um dort schließlich sein Heil in der Kreuzberger Kneipenwelt zu suchen und um ein Haar den Mauerfall zu verpennen („Herr Lehmann“). Man sollte eigentlich denken, dass bei einer Geschichte, deren Ende seit nunmehr sieben Jahren bekannt ist, irgendwann Langeweile aufkommen müsste. Diesem Umstand widersetzte sich bereits „Neue Vahr Süd“ und nun auch der neue, aus chronologischer Sicht erst zweite Lehmann-Roman der Trilogie. Das Geheimnis dahinter ist so neu auch nicht: Ähnlich wie man Element Of Crime-Platten nicht eines Songs wegen anhört, liest man Regener-Bücher eben nicht wegen der Auflösung, sondern wegen dem großen Ganzen. Kunstversessen und bierselig In „Der kleine Bruder“ bricht Frank Lehmann im Jahr 1980 nach der abenteuerlichen Bundeswehr-Erfahrung zu seinem in Berlin ansässigen Bruder Manni auf, den dort alle Freddie nennen. Dies kann einen Lehmann erstmal nicht erschüttern, die Abwesenheit des Bruders und die damit verbundene Unwissenheit seiner sogenannten Freunde schon eher. Ein bisschen wenigstens. Über fünf Stunden und 24 Minuten der Hörbuch-Version (5 CDs, 24,95 Euro) treibt es den kleinen Bruder, wie er fortan von Freddies WG-Kumpanen genannt wird, in die kunstversessene, bierselige West-Berliner Szene der frühen, neonbeleuchteten 80er Jahre. Zwischen Dr. Fotz und P. Immel Stets drückt Regeners gepresster und sich schier überschlagender Vortrag den Dreck und das Chaos jener Zeit erst heraus, als Nick Cave und Blixa Bargeld die geteilte Stadt als Avantgarde-Helden dominierten und der Autor selbst gerade dort ankam. Frank Lehmann besucht allerdings keine Neubauten-Konzerte, sondern Happenings, bei denen die Band Dr. Fotz und der Sänger P. Immel heißen. Klingt absurd, liest sich vielleicht auch so, wenn aber der Chef selbst diese Worte unnachahmlich dehnt, besteht nicht der leiseste Grund, daran zu zweifeln. Dahingenuschelter Vortrag Ohnehin: Wer schon einmal auf einer Sven Regener-Lesung zugegen war, weiß, dass niemand seine Romane besser (und schneller) vorlesen kann als der Element Of Crime-Sänger. Nebenbei wird anhand seines hanseatisch dahingenuschelten Vortrags wieder deutlich, wie logisch die Besetzung Christian Ulmens für den Film-Lehmann gewesen ist. So steht der Befindlichkeitswirrwarr jenseits guter Manieren und einem halbwegs stringenten Daseinsplan auch Regeners aktuellem Text gut zu Gesicht. Lehmann hinterfragt ein weiteres Mal Alltagsdinge, die uns eigentlich selbstverständlich erscheinen, mit einem trockenen Witz, der nicht gänzlich von Regeners persönlichem Humorzentrum abgekoppelt sein kann. Limited Edition mit Live-Lesung Dies wird auf der der Limited Edition des Hörbuchs beigelegten sechsten CD von der Premierenlesung auf der lit.cologne deutlich, wenn Regener ein ums andere Mal ins Lachen des Publikums einfällt. Lakonische Feststellungen wie „Der Dr. Fotz-Bassist war sehr elastisch in seinem Rausch“ belegen Regeners Gefühl für Satzmelodie und Bildsprache. Ohnehin glaubt man, der Autor habe diesem letzten Lehmann-Kapitel richtiggehend entgegen gefiebert, so grandios überdreht startet der Roman mit der Opel-Fahrt der Protagonisten über die Transitstrecke von Bremen nach West-Berlin. Anhänger von Sven Regeners Musik dürfen sich ebenfalls freuen. Zumindest verriet er dem Stadtmagazin Zitty kürzlich: „Ich habe keine Ideen für weitere Lehmann-Bücher und sehe auch keine Notwendigkeit.“