Lange war sie aus der subkulturellen Wahrnehmung völlig verschwunden, am späten Samstagnachmittag drang die Loveparade dann wieder ins kollektive Bewusstsein: Das katastrophale Unglück mit zur Stunde 20-facher Todesfolge markiert die Halbmillionenmetropole Duisburg als kolossalen Schandfleck auf der Festivalkarte Europas, über den international die BBC aktuell genauso selbstverständlich berichtet wie die Independent-Music-Webseiten Pitchfork und NME. Das endgültige Aus der weltgrößten Tanzveranstaltung ist die erste Konsequenz, die noch vor den anstehenden Untersuchungen zur Schuldfrage und juristischen Nachspielen gezogen wurde. Inwieweit die bestürzenden Ereignisse im Ruhrgebiet die Sicherheitsvorkehrungen anderer Großevents in Roskilde oder Glastonbury nachdrücklicher beeinflussen werden als die Todesfälle, die sich dort in den letzten Jahren ereigneten, bleibt abzuwarten. Herman: „Sodom und Gomorrha in Duisburg“ Weniger Geduld beweist unterdessen einmal mehr Eva Herman. Die Ex-Tagesschau-Sprecherin, Buchautorin und erklärte Feminismus-Gegnerin hat die TV-Berichterstattung über die Parade am Samstag von Beginn an mitverfolgt und ein etwas anderes Bild gewonnen. Auf der Internetseite des Kopp-Verlags mutmaßt sie, die Todesopfer seien eine Art göttlicher Zoll für die „riesige Drogen-, Alkohol- und Sexorgie“, als die die Veranstaltung seit nunmehr 20 Jahren fungiere. Nach formaler Beileidsbekundung liest Herman im samstäglichen Duisburg die Wiederkehr der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorrha. Trotz massenmedialer sowie bundespräsidialer Segnung als „Kulturveranstaltung“ sei offensichtlich, was wirklich auf der Loveparade ablaufe: Junge Menschen verabredeten sich zum Saufen, Drogen konsumieren und unehelichen Beischlaf. Ganz großmütterlich passt der Ex-Journalistin natürlich auch die Musik nicht ins christliche Wertbild: „Das ohrenbetäubende, stereotype Rave-Gehämmere, das nicht mehr im Geringsten etwas mit dem einstmaligen Begriff von Musik zu tun hat, zerschmettert ihnen über zahllose Stunden Trommelfelle und Nervenkostüme.“ Blanker Busen ohne Selbstkontrolle Schlimmer noch: „Viele Mädchen haben den Busen blank gezogen, manche sind fast völlig nackt. Sie wiegen sich in ekstatischer Verzückung im ohrenbetäubenden Lärm, Begriffe wie Sittlichkeit oder Anstand haben sich in den abgrundtiefen Bassschlägen ins Nichts aufgelöst.“ „Riesige dunkle Wolken der Enthemmung und Entfesselung treiben über dem Geschehen, die jungen Menschen wirken, als hätten sie jegliche Selbstkontrolle abgegeben, ekstatisch und wie im Sog folgen sie dem finsteren Meister der sichtbaren Verführung.“ Kein Wunder, dass der liebe Gott da nicht einfach wegschauen kann. „Für die Zukunft wurden jedoch Weichen gestellt: Denn das amtliche Ende der ‚geilsten Party der Welt‘, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen. Was das angeht, kann man nur erleichtert aufatmen!“ Da fragt man sich schon, was seinerzeit in Hermans Kopf beim Verlesen der Nachrichten mitunter vor sich gegangen sein mag. Bei so viel konzentrierter Pietät ohne jedes Profilierungsgebaren auf dem Rücken von Tod und Leid können wir nur gratulieren und die Leseempfehlung der Woche aussprechen. Aber bitte nicht zu den Mahlzeiten! P.S. Kaum weniger grandios ist Eva Hermans „Richtigstellung“ vom Montag, ebenfalls nachzulesen auf den Kopp-Verlag-Seiten. Frau Herman neigt nämlich nicht etwa bisweilen zu reaktionären bis fundamentalistisch deutbaren Statements, nein nein, sie hat bloß diesen einen Traum: den „eines Landes mit glücklichen Menschen, ohne Drogen, ohne übermäßigen Alkohol, ohne eine sexualisierte Gesellschaft, sondern eines Landes, in dem Menschen leben, denen Verlässlichkeit und gegenseitiger Respekt wichtig sind.“ Taubenkot vs. Kings Of Leon Damit aber auch genug Forum für den ganz groben Unfug. Mehr Heiterkeit verspricht eine Wochenendmeldung aus St. Louis. Dort brachen die Kings Of Leon ihr Set in einem Amphitheater nach nur drei Songs ab. Grund: Taubenkot. Wir halten fest: Für Frau Herman kommt alles Gute stets von oben, für die Kings Of Leon eher nicht so. Die Schuhmacher von Converse hingegen wissen: Manchmal kommt das Gute auch in Form von Markenmacht und Dollarscheinen. Sommer ? la Converse Während die Indiewelt noch rätselt, warum eigentlich so viele kredible Künstler für die „Twilight“-Soundtracks regelmäßig in die Kommerzkiste steigen, hat Converse für die Sommerkampagne bereits zum zweiten Mal (nach der Supergroup N.E.R.D./Santigold/Julian Casablancas) eine Dreierclique hipper junger Musiker in eine Kammer gesperrt und daraus ein Video produziert. Kid Cudi, Vampire Weekends Rostam Batmanglij und Bethany Cosentino von Best Coast formen das Trio 2010, das in unseren Konsumentenköpfen die Begriffe „Sommer“, „Indie“ und „Chuck Taylors“ noch enger zusammenschweißen soll. Definitiv gutes Casting, Converse zeigt sich auf der Höhe der Zeit, auch wenn der Song selbst erwartungsgemäß kaum über das Attribut „nett“ hinauskommt. „Magical shit“, wie ihn Kid Cudi in diesem Interview mit den Protagonisten erschaffen haben möchte, sieht dann doch anders aus. Mit einigem Wohlwollen entspricht das Konzept aber annäherungsweise der Idee von Klaxons‘ James Righton. Klaxons: No more laptops, sire! Der gab im laut.de-Interview anlässlich des anstehenden zweiten Albums zu Protokoll, dass er mit der neuen Riege an Laptop-Producern herzlich wenig anfangen kann: „Egal ob du Drummer bist oder singst, es geht um den Willen, einen echten Ausdruck zu erschaffen. Von einer Gruppe von Menschen, nicht nur von einer Einzelperson am Computer. ‚Surfing The Void‘ handelt von uns Vieren, wie wir zusammen diese Chemie erzeugen, diesen einzigartigen Moment. Es gibt mittlerweile mehr Laptop-Produzenten als neue Bands. Das ist eine echte Schande.“ Synergieeffekt – echter Ausdruck = Converse Summer Campaign? Das Mysterium um die Katze auf dem Cover von „Surfing The Void“ ist jetzt dank NME übrigens auch aufgeklärt: Der Weltraum-Kater gehört dem Sänger/Bassisten Jamie Reynolds, and „he’s really into our music“. Da sind wir aber beruhigt. Das vollständige Interview demnächst auf laut.de, Album-VÖ am 23.8. via Universal. Und sonst so? Jack White darf im Weißen Haus einen Beatles-Song performen und dabei fast auf Tuchfühlung mit Barack Obama und Paul McCartney gehen, Animal Collective sammeln als Juroren YouTube-Clips fürs Guggenheim und Patrick Wolf intoniert Beethovensche Volkslied-Bearbeitungen für eine Charity-Veranstaltung in London. Keine Sommerpause absehbar diesseits des Kanals, darum zur Entspannung als Anspieler der Woche Brookylns neueste Favs The Hundred In The Hands (Album-VÖ 17.9. via Warp): Berlin-Korrespondent Matthias Manthe berichtet in seiner wöchentlichen Kolumne über Themen, die wir gegen seinen ausdrücklichen Wunsch „indie“ nennen. Feedback und Anregungen gerne direkt an [email protected].
Jul
27
2010