Sep
1
2010

Arcade Fire nutzen Google Street View

Arcade Fire nutzen Google Street View

Irgendwann in der jüngeren Vergangenheit kam es in Bezug auf Pete Doherty, Carl Barât und The Libertines zu einem Schisma in der Pop-Berichterstattung. Während die eine Seite weiterhin dankbar Dohertys Drogen- und Kriminaleskapaden kolportierte, entschied sich die andere Hälfte dafür, der Selbstzerstörung des Bandprotagonisten nicht länger einen Boulevard zu bieten – so auch die laut.de-Newsredaktion. An diesem Wochenende indes kamen beide Flügel nicht um die Wiederaufbereitung des Themas The Libertines herum: Über die zwei jüngsten Reunion-Performances bei den englischen Festivals Reading und Leeds schreiben dieser Tage von BBC bis NME alle relevanten Musikmedien. Dabei müsste der nüchterne Blick eigentlich sofort zu der Frage nach dem Warum führen. Kocht da nicht bloß eine jahrelang entweder ausgelebte oder eben unterdrückte Sensationsgeilheit hoch? Pure Antizipation des nächsten Breakdowns gar? Auch im Jahr sechs nach dem letzten Studioalbum bleibt nämlich alles beim Alten. Wieder einmal stehen Barât und Doherty gemeinsam auf der Bühne, erneut gibt es außer dem wenig extraordinären Umstand, dass hier tatsächlich mal zwei Gigs komplett durchgezogen wurden, weder neues Songmaterial noch konkrete Album- und Tourpläne zu berichten, und wie immer gerät ihr Auftritt zur pathetischen Selbstbeweihräucherung zweier alter Helden des Garagerock-Revivals. Den Fans sei der hysterische Ausbruch vergönnt, wenn Barât seinem Best Buddy auf der Bühne ein Küsschen auf die Wange drückt und dessen T-Shirt zerreißt. Wo aber liegt das substanziell Neue dieser vermutlich gut durchchoreografierten Varietéhow? Wiedervereinigt, von einer sonnigen Zukunft schwadroniert (Barât im NME: „Like gentle fires warming the corridors of our hearts“) und wieder zerstritten haben sich die beiden Libertines seit 2004 mit solcher Regelmäßigkeit, dass der Hype überraschen muss. Der Glaube an den Pop als Spiegel zwischenmenschlicher Beziehungen scheint speziell in UK ungebrochen. Und damit auch die Hoffnung auf ein Happy End. Aphex Twin feat. Die Antwoord Überhaupt war London festivalmäßig am Wochenende place to be. Wo bei Leeds/Reading alte Bekannte zusammenkamen, holte sich IDM-Grandeur Aphex Twin beim London Electronic Dance Fest die Rapsatiriker Die Antwoord auf die Bühne. In denselben Pikachu-Kostümen, mit denen Ninja, Yo-Landi und Hi-Tek unlängst den Berliner Magnet Club in Brand setzten, hüpfen Die Antwoord im Livevideo vor Richard D. James‘ Turntables herum. Ein wenig jedoch scheint sich letzterer mit einem solchen Feature selbst ins Bein zu schießen. Neulich auf dem Melt! noch betonte Herr Twin in gewohnt ernstlicher Manier, seine dort aufgefahrene Videoperformance solle die „perfekte Synergie von Audio- und Video-Ebene“ sein. Seiner künstlerischen Integrität tut ein Die Antwoord-Auftritt möglicherweise keinen allzu großen Gefallen. Mit Street View zurück in die Heimatstadt Der Titel „Video der Woche“, besser: „Personalisierter Musik-Kurzfilm“ der Woche gebührt indessen eindeutig Arcade Fire. In einer Zeit, in der deutsche Medien und Politiker unisono panisch auf Googles Street View reagieren, liefern die Kanadier ein Musterbeispiel dafür ab, wie dessen Potenziale kreativ genutzt werden können. Zusammen mit Regisseur Chris Milk und Google hat man zu „We Used To Wait“ einen individualisierten Clip für den Chrome-Browser gebastelt. Im Verlauf des Films poppen diverse Google Earth- und Street View-Fenster auf, die das Albumthema von Rückkehr und Heimat für den einzelnen zu einer noch persönlicheren Erfahrung machen. Nach der Eingabe der jeweiligen Heimatstadt durch den Nutzer ? was momentan leider vorrangig bei US-Städten funktioniert ? begleiten Luft- und Straßenaufnahmen aus jenem Ort den flüchtenden Protagonisten des Hauptvideos. Die Fenster interagieren miteinander und überschreiben die Fotografien so mit einem Metatext. Datenbank-Surfing in der Memory Lane sozusagen. Eine schöne Polemik zur aktuellen Street View-Hysterie findet sich übrigens im c’t Magazin-Editorial. Berlin-Korrespondent Matthias Manthe berichtet in seiner wöchentlichen Kolumne über Themen, die wir gegen seinen ausdrücklichen Wunsch „indie“ nennen. Feedback und Anregungen gerne direkt an [email protected].