Er schrieb Welthits, er nahm Drogen, er trug Frauen- und Sado Maso-Klamotten: Wie kann es sein, dass es trotzdem weltweit keine Biographie über den Songwriter von Depeche Mode gibt? André Boße und Dennis Plauk konnten es wahrscheinlich selbst nicht glauben, als sie sich in die Arbeit zu „Insight“ (gebunden, 240 Seiten, 19,95 Euro) stürzten. Zwei mögliche Gründe könnten sein, dass sich Martin L. Gore zum einen in seiner Rolle als stiller Strippenzieher im Hintergrund bis heute sehr wohl fühlt. Zum anderen weiß er mit Dave Gahan einen Sänger in seiner Band, der auf (und zu Gores Leidwesen auch abseits) der Bühne stets sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Noch dazu verfügt Gahan über einen Lebenslauf, der dem Rock’n’Roll-Klischee vermeintlich näher kommt. Der junge Smash Hits-Redakteur Neil Tennant … Während die kürzlich erschienene Trevor Baker-Biographie über den Depeche Mode-Sänger des Öfteren den Charme einer Auftragsarbeit versprühte, treten Visions-Chefredakteur Plauk und Ex-Galore-Chef Boße mit all ihrem Wissen einen Schritt zurück, um das Phänomen Gore zu beleuchten. Den Devotees gelingt der schwierige Spagat, weder den uneingeweihten Leser mit Detailreichtum zu erdrücken, noch den Hardcore-Fan mit Fakten von der Stange zu langweilen. Ihr (un)geschminktes Portrait stützt sich maßgeblich auf Interviews (sehr schön: die Beobachtungen des jungen Smash Hits-Redakteurs und späteren Pet Shop Boys-Sängers Neil Tennant der 1984er Tour), doch auch hier gewichten die Autoren stets zum Vorteil der Geschichte und ziehen die richtigen Schlüsse. Das Selbstvertrauen des Ein-Finger-Keyboarders Besonders aus den nostalgisch verklärten 80er Jahren fördern Plauk und Boße interessante Ergebnisse zutage. Zweifellos wäre die steile Karriere der Engländer ohne das bis heute von der gesamten Band verhasste zweite Album „A Broken Frame“ wohl nicht möglich gewesen. Damals schöpfte der über Nacht vom Ein-Finger-Keyboarder zum Chef-Songwriter beförderte Gore nach Vince Clarkes Ausstieg erstmals Selbstvertrauen, als er merkte, dass sogar Songs, die er mit 16 geschrieben hatte, höher charteten als Clarkes „Just Can’t Get Enough“. Peinliche Auftritte In diese Übergangsphase fallen nicht nur optische Entgleisungen der beeindruckendsten Sorte, auch das Gefühl für die geeignete Promo-Plattform musste erst geschärft werden. Sehr anschaulich schildern Plauk und Boße diese Zeit des stilistischen Dilemmas anhand eines TV-Auftritts in der deutschen Nonsens-Show „Bananas“ Anfang 1982, in der Gore und Co. nicht einmal Gegenwehr leisteten, als man sie für ihr Liebeslied „See You“ mit echten Hühnern in einem fiktiven Stall abfilmte. Mit „Construction Time Again“ schärfte die Gruppe schon im Folgejahr ihr Profil, Gore rasierte sich seinen Bartflaum ab und wechselte alberne Fliegen und gestrickte Wollpullis mit Leder-Outfits. Plauk und Boße arbeiten die Einflüsse und Ereignisse heraus, die Gore in dieser Zeit darin bestärkten, musikalisch entgegen den Trend bis 1987 weiter ausschließlich auf Synthesizer zu setzen und sich wider die eigene Natur bei nächtlichen Trinkgelagen öffentlich zu entkleiden. Der Unterschied zu Morrissey In bisher nicht gekanntem Ausmaß rückt man endlich auch Gores Humor auf die Pelle, der in zahlreichen Songs steckt, von der Presse aber unbemerkt blieb. Eine wichtige Beobachtung ist auch, dass die Musikredaktionen in den 80er Jahren noch weitgehend mit Journalisten im mittleren Alter bevölkert waren, die die rasche Veränderung einer Teenie-Popband schlichtweg überforderte. Dass Gore den Journalisten im Gegensatz zu Smiths-Sänger Morrissey nicht den Gefallen tat, sich als intellektuellen Denker zu positionieren, machte die Sache nicht einfacher. Sex und Trinken gegen die Langeweile Gore machte keinen Hehl daraus, dass seine Songs vor allem die Langeweile des Lebens widerspiegeln: „Ich sehe unsere Musik unter dem Motto: ‚Liebe, Sex und Trinken gegen die Langeweile.‘ (…) Ich bezeichne Liebe als ein Trostpflaster gegen die Langeweile, genauso wie Trinken und Sex“. Den größten Unterschied zu den damals angesagten Smiths sah Gore denn auch darin, dass bei den Kollegen aus Manchester klar die Texte im Vordergrund stünden. Nicht so bei Depeche Mode: „Ich würde sagen, wir haben vielleicht 0,1% unserer Platten wegen unserer Lyrics verkauft und sicher überhaupt keine wegen unserer Persönlichkeiten“, so Gore 1984. Johnny Cashs Ritterschlag Natürlich kommen weder seine privaten Verbindungen (mit der Berliner Freundin Christina Friedrich und der späteren texanischen Ehefrau Suzanne Boisvert) zu kurz, noch seine Verfehlungen als schweigsamer Band-Diktator, die 1995 zu Alan Wilders Ausstieg führten. Man mag es nach den 240 Seiten der Lektüre zwar noch immer kaum glauben, wie ein so zurückhaltender und schwer begeisterungsfähiger Mann zu dieser Weltkarriere abheben konnte. Man versteht aber, welche äußeren Faktoren den Ex-Bankangestellten dazu bewegten. Die für seine Bandkollegen oft als Qual empfundene, reservierte Gleichgültigkeit illustriert schließlich die Anekdote, als Dave Gahan ihm 2002 völlig außer sich vor Begeisterung mitteilte, dass Johnny Cash soeben seinen Song „Personal Jesus“ gecovert habe. Gore entgegnete nur: „Ja, das ist wohl ganz gut geworden.“
Oct
8
2010