Sie berichten vom Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg, von der AKW-Katastrophe in Japan und natürlich Libyen. Alles wie immer in Deutschlands Tageszeitungen. Nur ein Blatt schert an diesem Montag aus, es ist ein ganz spezielles. Es liegt nicht morgens im Briefkasten, sondern wird um 12 Uhr mittags gratis verteilt. Dem Vernehmen nach weltweit, in 50 Städten. Zeitgleich. Die Herausgeber: Radiohead. Die Überschrift: „The Universal Sigh“ – das allgemeine Seufzen. Das Titelbild: Ein Abdruck des Covermotivs von „The King Of Limbs“, dem neuen Album von Radiohead. 2000 Exemplare für deutsche Fans Es ist natürlich keine klassische Tageszeitung, die man an der online ausgewiesenen Verteilstelle in Kreuzberg in die Hand gedrückt bekommt. 2000 Exemplare (in deutscher Sprache) haben die Zeitungsverteiler, die einem sonst an jeder Ecke ein Probe-Abo der Morgenpost oder des Tagesspiegels aufschwatzen wollen, an einem improvisierten Straßenstand zu vergeben. Um 12 Uhr mittags sind es gerade einmal ungefähr 50 Personen, die zu den ersten Besitzern gehören wollen. Radiohead nur kurz offline Sie posieren stolz mit der Ausgabe, Sekunden später ist das Bild bei Facebook. Dennoch muss der weithin ausgebliebene Andrang eine Enttäuschung für Radiohead sein, bedenkt man, wie die Band noch für die virale Strategie rund um den Release von „In Rainbows“ in den Himmel gelobt wurde. Die zugehörige Website www.theuniversalsigh.com ist zunächst nicht aufrufbar: „Database unavailable“. Erst gegen 16 Uhr ist sie freigeschaltet und zeigt Fotos der ersten Leser von „The Universale Sigh“. Radiohead sind also nicht offline gegangen. Bieterschlachten auf Ebay Nach einer Viertelstunde sind in Berlin gerade einmal 150 Exemplare ausgegeben, die drei Verteiler vergeben bereits mindestens fünf Ausgaben auf einmal an Passanten. Ob sie wissen, dass sich Fans bei Ebay bereits exzessive Bieterschlachten um genau jene Ausgaben liefern? Wohl eher nicht. Jedenfalls hätte das zwölfseitige Heft damit tatsächlich auch den Umfang einer Tageszeitung. Doch was steht nun drin? Lyrik und Zivilisationskritik „Alles war normal und wie es sein sollte, bis ich eines Tages aufwachte und bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Ich wusste nicht, was es war. Doch es war hartnäckig und ließ sich nicht ignorieren.“ So lauten die ersten Zeilen des naturphilosophischen Essays auf Seite 2, für den kein Autor ausgewiesen wird. Womöglich ist es Thom Yorke oder ein anderes Bandmitglied? Es folgt: Lyrik („Über eine weite Kluft“), Zeichnungen, Fotos und naturalistisch-biografische Kurzprosa mit einem Schuss Zivilisationskritik von Robert Macfarlane („Auf Bäume klettern“), Jay Griffiths („Wälder der Seele“) und Stanley Donwood („Verkauf dein Haus und kaufe Gold“), der seit Jahren die Illustrationen für die Alben von Radiohead beisteuert. Endprodukt der Wertschöpfungskette Wer möchte, kann zwischen den Zeilen ein Bekenntnis zum kriselnden Medium der gedruckten Tageszeitung herauslesen. Oder nach der Entmachtung der Plattenbosse den Wink an die Musikpresse, der Radiohead schon seit Jahren keine ausführlichen Interviews mehr geben. Alle Nachrichten zu „The King Of Limbs“ produzieren sie lieber selbst. Sie stehen ? selbstverständlich verschlüsselt – in „The Universal Sigh“. Die Zeitung, sie ist jedoch auch ein (vorläufiges) Endprodukt der Wertschöpfungskette eines abgeholzten Baumes. Unendlich naturbewusst Dem Vernehmen nach haben Radiohead ihr achtes Album nach einer 1000 Jahre alten Eiche in der englischen Grafschaft Wiltshire benannt. „The King Of Limbs“ – der König der Äste. Auf Seite 10 der Zeitung prangt passenderweise „Infinity“ über einer Fotografie eines sonnendurchfluteten Waldes. „Infinity“ ? Unendlichkeit. Liest man aus diesem Kontext (auch die Albenverpackung ist ja angeblich zu 100% biologisch abbaubar) einen Aufruf zu einem nachhaltigeren Schutz natürlicher Ressourcen heraus, ist Radioheads Zeitung aus recyclebarem Altpapier durchaus tagesaktuell. Denn wie war noch mal die eigentliche Schlagzeile des Tages?
Mar
29
2011