Selten war man dem Wundergitarristen so nah, sah ihm so im Detail auf die Finger: „Electric Church“ ist die definitive Dokumentation zu Jimi Hendrix’ Auftritt beim Atlanta International Pop Festival 1970, dem legendären „Woodstock des Südens“. Ein faszinierendes Filmdokument, das rockt.
Text: Ernst Hofacker
„Für Jimi war jedes Konzert einerseits etwas Familiäres, andererseits aber auch etwas Spirituelles. Er wollte, dass sich die Leute wie in seinem Wohnzimmer fühlten oder, wie er später sagte, ‚wie in einer Kirche’.“ Abe Jacob, seinerzeit Toningenieur in Hendrix’ Tour-Tross, sagt das in einer Szene der faszinierenden Filmdokumentation „Electric Church“ und erklärt damit gleichzeitig deren Titel.
500.000 Fans überfallen ein Dorf
Der 105-minütige Film über das sagenhafte „Woodstock des Südens“, wie das Atlanta International Pop Festival auch genannt wurde, zeigt Hendrix vor einer unfassbar großen Menschenmenge; mit einer knappen halben Million war es das größte Publikum, das sich je vor seiner Bühne versammelt hat. Tatsächlich markieren diese drei brütend heißen Tage vom 3. bis zum 5. Juli 1970 mit mehr als 30 Bands, darunter The Allman Brothers, Johnny Winter, Ten Years After und Procol Harum, das letzte große amerikanische Rockfestival.
Es war die Zeit, als solche Veranstaltungen noch nicht straff durchorganisiert und stattdessen gekennzeichnet waren von einem hohen Maß an Chaos, Improvisation und Spontaneität. Wie schon beim berüchtigten Altamont-Festival im Dezember 1969 – dort war während eines Konzerts der Rolling Stones ein afroamerikanischer Zuschauer erstochen worden – war auch für das Atlanta International Pop Festival eine Motorradgang als Ordner angeheuert worden. Aber auch sie musste vor dem riesigen Ansturm auf die rund 100 Meilen südlich von Atlanta gelegene 1.000-Seelen-Gemeinde namens Byron kapitulieren. Ähnlich wie ein Jahr zuvor in Woodstock, musste die Veranstaltung noch am ersten Tag zum Free-Festival erklärt werden.
Mit Feldstechern beäugt
Was tatsächlich vor Ort geschah, war ein regelrechter Clash of the Cultures: Die zahlenmäßig weit überlegene US-Gegenkultur traf auf ein verschlafenes Nest im stockkonservativen Süden. Die Menschen dort reagierten halb ängstlich und verschreckt, halb fasziniert und neugierig. Die Kids der Gegend mischten sich begeistert unters Festivalvolk, die Altvorderen lungerten derweil am Rande des Festivalgeländes herum und beobachteten argwöhnisch und mit Hilfe von Feldstechern die nackt in den umliegenden Flüssen und Tümpeln badenden Hippies. Dabei waren die Hippies in der Minderheit, zum weit überwiegenden Teil bestand das Publikum aus ganz normalen College-Kids, die allerdings aus ganz Nordamerika nach Byron gekommen waren. Es war das Stammestreffen der Generation Underground, die den kulturellen Wandel der späten 1960er-Jahre, für den Jimi Hendrix und seine Musik standen, längst schon lebte.
Hendrix selbst war zu diesem Zeitpunkt die größte Konzertattraktion, die der Popmarkt zu bieten hatte. Keiner außer ihm konnte Gagen im damals ungeheuerlichen sechsstelligen Dollarbereich verlangen. Keiner aber auch war in der Lage, ein nach Hunderttausenden zählendes Publikum auf einer abgelegenen Rennbahn irgendwo im tiefsten Georgia zu versammeln und es dann mit seinem explosiven Auftritt dermaßen zu fesseln, wie es der Gitarrenmagier aus Seattle konnte.
Jimi als Hauptattraktion seiner Zeit
„Electric Church“ beweist das eindrucksvoll: Die Festivalbesucher betrachteten den in alle Farben des Regenbogens gewandeten Hendrix wie ein außerirdisches Fabelwesen und trugen ihn gleichsam auf Händen durch den Konzertset. Der Superstar dankte es ihnen, indem er hochemotionale Lesungen einiger seiner bekanntesten Songs gab, „Purple Haze“, „Hey Joe“, „Voodoo Chile (Slight Return)“ und „Red House“. Dazu gab’s neue, zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichte Tracks wie „Room Full Of Mirrors“ und „Freedom“. Auch wenn nicht alles Gold war, was da im Scheinwerferlicht glänzte – mehrfach musste Hendrix seine Gitarre nachstimmen, den Dylan-Klassiker „All Along The Watchtower“ startete er zunächst in der falschen Tonart –, so hatte das Ganze doch den Rang eines Rock’n’Roll-Hochamtes, dessen Höhepunkt das zum finalen Feuerwerk zelebrierte „Star Spangled Banner“ bildete.
Dem berühmten TV-Host Dick Cavett erklärte Hendrix die Sache mit der elektrischen Kirche einmal so: „Es ist einfach ein Glauben, den ich habe. Wir verwenden Elektrogitarren, und alles ist elektrifiziert heutzutage, daher geht der Glaube sozusagen ‚elektrisch’ auf die Leute über. Wir wollen, dass unser Sound die Seele in den Menschen anspricht und ihnen vielleicht etwas bewusst werden lässt. Denn es gibt ja so viele Leute, die schlafen. So kann man es fast nennen.“ Wer Hendrix hörte, ob in Monterey, Woodstock oder eben beim Atlanta International Pop Festival, der wurde erweckt. In dem kleinen Ort Byron, Georgia, waren der Elektrischen Kirche an diesem tropischen Unabhängigkeitstag eine gute halbe Million Menschen beigetreten.
Nur etwas mehr als zwei Monate später war der Begründer dieser Kirche tot.
Auf DVD und Blu-ray lässt sich dieses Spektakel eindrucksvoll nacherleben. Unter dem Titel „Freedom“ gibt es bereits den sorgfältig restaurierten Audiomitschnitt der Show zum ersten Mal offiziell auf einer Doppel-CD, nun bietet die Filmdoku tiefe Einblicke in das Hendrix-Konzert und die Umstände, unter denen das Woodstock des Südens 1970 stattfand.
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