Messias in Bikerstiefeln: Als im Oktober 1980 „The River“ erschien, galt der Mann aus New Jersey hierzulande noch als Geheimtipp. Zwar hatten sich seine sagenhaften Live-Qualitäten herumgesprochen, doch was mich an jenem Dienstag, dem 14. April 1981, im Inneren der majestätischen Frankfurter Festhalle erwarten würde, ahnte ich nicht.
Text: Ernst Hofacker
Woher auch hätte ich es wissen sollen? Internet, YouTube und Smartphones gab es nicht, und in den wenigen Musikblättern war nur ein mysteriöses Raunen zu vernehmen, dass es da drüben, auf der anderen Seite des Atlantiks, einen geben würde, der seine Konzerte zu mehrstündigen Massenbekehrungen im Namen des Rock’n’Roll umfunktionierte. Fantasti-sche Gerüchte, unter denen man sich wenig vorstellen konnte. Und dann war da noch WDR-Redakteur Peter Rüchel, der Bruce Springsteen und die E Street Band seit Jahren für seine „Rockpalast“-Nacht in der Essener Grugahalle verpflichten wollte. Regel¬mäßig war er dabei gescheitert.
Im Auto „The River“ auf Dauerschleife
Das neue Album „The River“ war einige Monate zuvor erschienen. Es war gut. Aber es war anders, die düstere Intensität des Vorgängers „Darkness On The Edge Of Town“ fehlte ihm, auch die existenzielle Wucht von „Born To Run“. Stattdessen gab es jede Menge polternden Party-Rock zu hören, Sachen wie „Cadillac Ranch“ und „The Ties That Bind“, und ein paar schöne Balladen, den Titeltrack zum Beispiel mit seinem markanten Harp-Intro. Auf dem Weg nach Frankfurt hatten wir „The River“ in Dauerschleife gehört, im mit einer Teppichrolle schwarz lackierten Opel Rekord meines Bruders. Nun standen wir in einem der Blocks seitlich der Bühne. Eine Vorgruppe gab es nicht. Überhaupt war alles einigermaßen unspektakulär.
Kurz nach acht: Das Hallenlicht wird heruntergedimmt. Fanfaren, Explosionen, Feuerwerk? Nichts dergleichen. Auch kein Videoscreen. Nervös tanzen auf der düsteren Bühne ein paar Taschenlampenstrahlen in der Dunkelheit, schattenhafte Gestalten suchen ihren Platz an den Instrumenten. Der erste zaghafte Beifall wächst zum Jubel. Endlich schält sich aus dem Lärm ein schwellender Orgelakkord. Dazu eine schmucklose Snaredrum, wie das Schlagen eines schweren Metallhammers. Und diese Stimme: „Early in the morning, factory whistle blows…“
Die Orgie beginnt
Ausgerechnet das schwermütige „Factory“, ein stilles Gebet, eine Meditation im unerbittlichen Rhythmus immer gleicher Schichtarbeit. Anderthalb Minuten, dann sind die drei Strophen gesungen. Übrig bleibt die dröhnende Hammondorgel. Im nächsten Moment aus dem Dunkel des Bühnenraums ein gepresstes „One, two, three, four“, gefolgt vom donnernden Introakkord von „Prove It All Night“. Es ist der Auftakt zu einer orgiastischen, explodierenden Rock’n’Roll-Party. Mit allem, was dazu gehört: „The Promised Land“, „Thunder Road“, „Hungry Heart“, „Point Blank“.
Irgendwann, nach anderthalb Stunden vielleicht, eine Pause. Wir klettern über die Absperrungen, strömen in Pulks nach vorne. Wie Wasser, das in eine Rinne schießt, quetschen wir uns in den Raum zwischen Bühne und erster Stuhlreihe. Erwartungsfrohe Fangesichter hier, resignierte Ordner dort. Und als die Band wieder loslegt, tanzende Leiber soweit das Auge reicht. „Rosalita“, „Born To Run“, „Rockin’ All Over The World“.
Wie ein Elvis aus der Gosse
Nie habe ich eine solche Energie verspürt, nie eine solche alles verzehrende Leidenschaft erlebt. Da oben sieben Mann, die buchstäblich um ihr Leben spielen, angeführt von einem einfachen Kerl in grauen Jeans und klatschnassem, bis oben hin aufgekrempeltem Hemd, immer in Bewegung, wild mit den Armen rudernd und die Telecaster schwenkend. Ein durchgeknallter MC, wie ich keinen davor und keinen danach gesehen habe; ein Elvis aus der Gosse, ein Messias mit stampfenden Bikerstiefeln; dazu ein verzweifeltes Lachen und dieser lodernde Blick, in dem zu lesen steht: Irgendwas geht auch für mich, wenn ich nur fest genug auf dieses Stück Holz eindresche und dabei laut genug singe.
Waren es am Ende drei oder sogar vier Stunden? Keine Ahnung. Wochen später berichtete mir ein Freund, dass er von Konzertbesuchern wisse, die hinterher ihre komplette Plattensammlung verhökert und den Erlös in die fünf Springsteen-Alben investiert hatten. Gott sei Dank, ich besaß sie bereits.
„The Ties That Bind: The River Collection“
Dieses Super Deluxe Boxset gibt es in zwei Ausführungen: mit vier CDs und drei DVDs oder vier CDs und zwei Blu-rays. Neben dem remasterten Original-Doppelalbum gibt es auf der dritten CD das zehn Tracks umfassende „The River: Single Album“, das damals nicht veröffentlicht wurde und neben einigen bekannten Tracks des späteren Doppelalbums auch Songs wie „Cindy“ und „Be True“ enthält, die es nicht auf „The River“ schafften; auf der vierten CD finden sich zudem 22 Outtakes aus den „The River“-Sessions, von denen elf bislang nicht veröffentlicht wurden.
Die DVDs und Blu-rays zeigen den unter der Regie von Thom Zimny produzierten neuen 60-minütigen Dokumentarfilm „The Ties That Bind“, der die Entstehung des Albums beleuchtet, dazu das komplette Konzert von Bruce Springsteen & The E Street Band vom 5. November 1980 im Arizona State University Activity Center in Tempe, Arizona, sowie in der Bonus-Sektion Aufnahmen einzelner Songs von den Tour Rehearsals. Obendrein ist das Boxset mit einem 148 Seiten starken Coffeetable-Hardcover-Buch ausgestattet, das bislang unveröffentlichtes Fotomaterial, diverse Memorabilia sowie Liner Notes des renommierten US-Journalisten Mikal Gilmore enthält.
- › Jetzt Kaufen: