Er war Skeptiker, Realist, Visionär und kultiviertes Multitalent. Und er war einer der einflussreichsten Künstler der Rockmusik: Am 27. Oktober starb Lou Reed mit 71 Jahren in Southhampton, New York, an den Folgen einer Leberkrankheit.
von Ernst Hofacker
Mit Velvet Underground hatte er in den 1960er Jahren die düstere Seite des Rock erschlossen. Zu einer Zeit als die Beatles „All You Need Is Love“ säuselten, wusste Lou Reed, geboren am 2. März 1942 in Brooklyn, New York, längst, dass sich das Böse nicht ausblenden ließ und seinen Platz beanspruchte in einer Kunst, die sich mit den Realitäten des Daseins auseinandersetzen wollte. Konsequenterweise ging es in Songs wie „Heroin“, „I’m Waiting For The Man“, „Femme Fatale“ und „White Light/White Heat“ um die Schattenseiten der Gegenkultur: Drogen, Sadomaso-Sex, Gewalt und Suizidphantasien.
Wären Velvet Underground, die kommerziell frustrierend erfolglose Antithese zu Flower Power und Hippieseligkeit, in Woodstock aufgetreten, der romantische Spirit des Festivals wäre wohl nachhaltig verstört worden – und die Generation „Love & Peace“ hätte womöglich in einen wenig erbaulichen Spiegel der eigenen Illusionen geblickt. In die fröhlichen Swinging Sixties aber passten Velvet Underground nicht wirklich. Dennoch ist ihr Werk zu keinem anderen Zeitpunkt denkbar, denn es speiste sich aus dem kulturellen Umbruch der Nachkriegszeit, aus dem Geist der Beat Generation ebenso wie aus Elvis’ Hüftschwung und dem Traum des Dr. Martin Luther King. All das drehten Velvet Underground durch ihren scharfkantigen New Yorker Fleischwolf, womit sie der Popkultur einen Realismus schenkten, ohne den eine Kunstform kaum Relevanz gewinnen kann.
Hören wollte das keiner, Velvet Underground wurden zu ihrer Zeit kaum wahrgenommen. Reeds Zeit jedoch sollte bald kommen, in den Siebzigern wurde er doch noch zum Star. In diesem Jahrzehnt, das so entschlossen auf dem schmalen Grat zwischen Dekadenz, Hedonismus, Eskapismus und Nihilismus balancierte, war einer wie Reed – mürrisch, zynisch, dabei klug und unbestechlich, der mit seiner Poesie Bereiche erforschte, in die sich weder Dylan noch die Stones getraut hatten – die perfekte Besetzung für die Rolle des „effeminierten Frankenstein des Rock“ (Rolling Stone). Er war tatsächlich der Mann, der den „Walk On The Wild Side“ wagte, der wusste wovon er in „Vicious“ sang. Dabei war er kein Akrobat Schön, stattdessen klang er skeptisch, notorisch schlecht gelaunt, geiferte monoton und mit sonderbar tonloser Antistimme. Er war der Mann, vor dem auch die Punks Angst hatten.
Reeds Solowerk blieb wie sein Schöpfer: unberechenbar, faszinierend und vielseitig, dabei gleichermaßen erratisch wie genialisch. Sperrigen Konzeptwerken wie „Berlin“ folgte die beunruhigende Antimusik von „Metal Machine Music“, spröden Rock-Lesungen wie „The Blue Mask“ der überraschend zugängliche Poprock von „Coney Island Baby“. Zuletzt legte Reed im Jahr 2011 mit „Lulu“ eine Zusammenarbeit mit den Musikern von Metallica vor, die bei Fans und Feuilleton einmal mehr für hitzige Debatten sorgte. Der Freigeist Reed kümmerte sich da schon lange nicht mehr um Grenzen und reüssierte wie selbstverständlich auch auf den benachbarten Kreativfeldern von Theater und Fotografie. Wer auf der wilden Seite geht, ist überall zuhause.
Am 27. Oktober starb Lou Reed, der sich im Frühling dieses Jahres einer Lebertranspalantation unterzogen hatte, in seinem Haus in Southhampton, New York, offenbar an den Folgen seiner Erkrankung. Er wurde 71 Jahre alt.
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